Nichts ist so inspirierend wie ein weißes Blatt Papier. Mit ihm bringt der Architekt Objekte zum sprechen, die ihren Platz in der Welt noch nicht gefunden haben. Entwurfszeichnungen bilden den Kern des architektonischen Tagewerkes. Mit deren Hilfe werden Ideen sichtbar und unsere Imagination Reales. Doch Architekturzeichnungen sind keinesfalls gleich dem gebauten Objekt. Sie geben nur einen Teil wieder, „an dem die erstrebte Grundstimmung fassbar wird, ohne dass sie von Unwesentlichem abgelenkt wird“ (Peter Zumthor). Sie lässt Freiräume, in die der noch unbebaute Raum, mittels unserer Vorstellung eindringen und sich eine Einheit bilden kann, zwischen dem dargestellten und dem realen Raum. Sie ermöglicht es zurückzutreten und zu verstehen wie sich unser gedachter Raum in die reale Umgebung einbindet.
Das weiße Blatt Papier bildet, zusammen mit dem Ort, die Projektionsfläche für unsere Ideen aber auch Assoziationen mit anderen Orten und Bildern. Für den Schweizer Architekten Peter Zumthor ist dies ein eintauchen in den Ort seines Entwurfes.
„Wenn ich mich auf einen bestimmten Ort konzentriere, für den ich zu entwerfen habe, wenn ich versuche, diesen Ort auszuloten, seine Gestalt, seine Geschichte und seine sinnlichen Eigenschaften zu begreifen, dann beginnen in diesen Prozess des genauen Hinschauens schon bald Bilder von anderen Orten einzudringen: Bilder von Orten, dich ich kenne, die mich einmal beeindruckt haben, Bilder von alltäglichen oder besonderen Orten, deren Gestalt ich als Inbild bestimmter Stimmungen und Qualitäten in mir trage; Bilder von Orten oder architektonischen Situationen auch, die aus der Welt der bildenden Kunst, des Films, der Literatur, des Theaters, stammen.
Sie fallen mir zu, diese anderen auf den ersten Blick oft unpassenden oder fremden Orts-Bilder unterschiedlichster Herkunft. Oder ich zwinge sie herbei. Ich brauche sie. Erst wenn ich im Geiste in den konkreten Ort einstrahlen lasse, was diesem ähnlich, verwandt oder zunächst fremd ist, entsteht dieses vielschichtige und tiefenscharfe Bild des Lokalen, das Bezüge freilegt, Kräftelinien erkennen lässt, Spannungen aufbaut; es entsteht der entwerferische Malgrund, das Netz der unterschiedlichen Wege der Annäherung an den Ort kommt zum Vorschein, was mir die Entscheidungen des Entwerfens ermöglicht. So tauche ich in den Ort meines Entwurfes ein, spüre ihm nach, und gleichzeitig blicke ich nach außen, in die Welt meiner anderen Orte.“
Peter Zumthor – Architektur Denken
Der Prozess des spüren des Raumes muss dabei ein handwerklicher, greifbarer Prozess sein. Er muss mit dem Bleistift in der Hand auf einem Blatt Papier geschehen. Ein Computer stört diesen Prozess, denn der Raum wird nicht greifbar. Zwischen dem Entwurf auf einem Monitor und dem Architekten entsteht keine Einheit, wohingegen das weiße Blatt greifbar wird und für den Architekten durch die Hand zur Projektionsfläche seiner Ideen. Er spürt den Raum direkt an seinem Finger und lässt so seinen Ideen und Assoziationen freien lauf.
16.Oktober 2013